Ch. Balouzat-Loubet (Hrsg.): Digitizing Medieval Sources

Cover
Titel
Digitizing Medieval Sources. Challenges and Methodologies / L’édition en ligne de documents d’archives médiévaux. Enjeux, méthodologie et défis.


Herausgeber
Balouzat-Loubet, Christelle
Reihe
Atelier de recherche sur les textes médiévaux (27)
Erschienen
Turnhout 2020: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
182 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Geelhaar, SFB 1288 Praktiken des Vergleichens, Universität Bielefeld

Angesichts des Titels könnte man böswillig fragen, ob denn Digitalisierung in den Geschichtswissenschaften immerzu nur digitales Edieren bedeute. Wer sich nun ertappt fühlt, dem sei dieser Sammelband ans Herz gelegt. Zwar wollten die Herausgeber:innen das gastgebende Projekt „TRANSSCRIPT. Writing and Governance. Cultural transfers between France and the Empire (13th–16th centuries)“ in den Kontext anderer laufender Arbeiten stellen und über methodologische wie epistemologische Herausforderungen digitaler Editionsprojekte zu mittelalterlichen Quellen diskutieren. Doch gehen die zehn Beiträge zu der internationalen Tagung in Nancy vom 9./10. Juni 2016 weit darüber hinaus. Isabelle Guyot-Bachy kommt daher in ihren Schlussbetrachtungen zu der Frage, wann die editorische Arbeit eigentlich in eine historische Studie übergehe (S. 176). Motiviert ist diese Frage durch eine Fokusverschiebung der Beitragenden hin zu Interoperabilität und Vernetzung von Datenbanken mittels semantic-web-Technologien. Da vieles in diesem Bereich auch sechs Jahre später noch nicht realisiert ist, lohnt sich die Lektüre.

Die ersten drei Beiträge widmen sich der Auszeichnung, Referenzierung und ontologischen Aufbereitung mittelalterlicher Quellen. Jean-Philip Genet behandelt drei Arten von Referenzierungen: intern (innerhalb einer Datenbank), extern (zu einer externen Ressource), integriert (also die Auszeichnung von Informationen in einer Datenbank mithilfe von Ontologien, über die sich thematisches „Weltwissen“ strukturieren und repräsentieren lässt, S. 17). Er sieht großes Potential bei der Verknüpfung von Quellen über Ontologien, womit sich Historiker:innen bisher nicht ausreichend beschäftigt hätten. Zu deren Erstellung seien aber Kenntnisse der Ontology Web Language (OWL) bzw. der Ontologiesoftware Protegée vonnöten. Els de Paermentier geht Möglichkeiten des cross-examining von verfügbarem content nach, wenn Metadaten standardisiert verfügbar sind. So begrüßenswert die Vielzahl an existierenden digitalen Urkundeneditionen auch sei, fehle aus Sicht der Nutzer:innen noch die nötige Interoperabilität. Sinnvoll sei auch, archivbezogene Metadaten zu integrieren, um Beziehungen zwischen Dokumenten und ihrer Archivierung auswerten zu können. Georg Vogeler thematisiert die Notwendigkeit, bei historischen Datenbanken zwischen der Präsentation von Quellen und Fakten, die aus diesen gewonnen würden, sorgfältig zu unterscheiden. Er plädiert für die Konzeptionalisierung von Ontologien historischer Wissensbestände mittels Ressource Description Framework (RDF), um so auch „‚factual‘ data“ auszuzeichnen. Damit sind historisch gesicherte Informationen im Unterschied zum Quellentext gemeint, die wie Personen- oder Ortsnamen über RDF referenzierbar und damit verknüpfbar mit anderen Texten gemacht werden können.

Der zweite Block umfasst drei Beiträge zu digitalen Urkundeneditionen. Eliana Magnani schildert den sehr wechselhaften und schmerzvollen Weg angesichts institutioneller Entscheidungen, Entwicklungen und (ausbleibender) Geldzusagen bei der Realisierung des CBMA Chartae/Corpus Burgundiae Medii Aevi. Positiv gewendet seien diese krisenhaften Bedingungen aber als Auftakt für eine wissenschaftliche Revolution zu deuten (S. 65). Auf inhaltlicher Ebene erläutert sie die textuelle Erweiterung des CBMA durch andere Textgattungen wie Hagiographie. Antonella Ambrosio diskutiert digitale kritische Editionen auf Monasterium.Net am Beispiel der „Digital Edition of the Documents of the Abbey S. Maria Della Grotta“. Diese kollaborativ erstellte kritische Edition nutzte die Arbeitsumgebung MOM-CA. Die hier verfügbaren Tools wurden für die Auszeichnung der Urkunden nach der Charter Encoding Initiative (CEI) verwendet. Weil dieser Auszeichnungsstandard aber für mitteleuropäische und norditalienische Urkunden entwickelt worden ist, war es nötig, Anpassungen vorzunehmen, um auch abweichende Merkmale süditalienischer Urkunden auszeichnen zu können. Die Autorin nennt als Beispiel die Beteiligung eines Richters als zusätzliche Validierungsinstanz bei der Ratifikation (S. 77). Gerade bei Verbundarbeit sei eine einheitliche Terminologie notwendig, womit auch Ambrosio an das Thema Ontologie und vernetzte Daten anknüpft. Sie kritisiert zudem die traditionellen Publikationsformen und deren Beschränkungen und fordert: „Ideally, it could even free the traditional edition from current descriptive boundaries which organize online information about the document, whether in inventories, or collections of facsimiles or in regesta, as separate, heterogeneous resources. It is important to overcome these limitations and even propose all-encompassing ‚meta editions‘.“ (S. 83) So weit gehen die Gastgeber:innen nicht. Laura Gili-Thébaudeau und Timothy Salemme stellen eine mehrsprachige Datenbank für die Urkunden der Herzöge von Lothringen und der Grafen von Luxemburg vor. Es sollen Praktiken schriftlicher Verwaltung in einem mehrsprachigen, grenzüberschreitenden spätmittelalterlichen Herrschaftsgebiet vergleichend untersucht und kartografisch repräsentiert werden. Zu den Herausforderungen gehört nicht nur die Korpusbildung verstreuter fürstlicher Urkunden und die einheitliche Verschlagwortung verschiedensprachlicher Quellen, sondern auch die Langzeitarchivierung und Interoperabilität. Letztere Punkte sind durch die Aufnahme der Datenbank in die Plattform TELMA des IRHT (Institut des recherches d’histoire des textes) realisiert worden. Auch wenn die Datenbank zu den vorgestellten Projektzielen gehört, gewinnt man als Leser doch den Eindruck, dass der Aufbau einer Datenbank in der Projektkonzeption erst seinen Platz finden musste.

Die letzten vier Beiträge widmen sich weiteren Quellengattungen: Sören Kaschke präsentiert eine neue Edition der fränkischen Kapitularien, die sowohl digital als auch in einer Printausgabe erscheinen soll. Dies solle „top-down“- (Print) und „bottom-up“-Zugänge (digitale Ausgabe) ermöglichen – gemeint sind Zugänge über den vereinheitlichten Editionstext in der Printversion oder über die Vielfalt der Textzeugen online –, was bei einer so heterogenen Textgattung wie den frühmittelalterlichen Herrschererlassen mit ihrer komplexen Überlieferungslage und fehlenden textuellen Stabilität ein sinnvolles Vorgehen ist. Die Editionsarbeit wurde mit dem proprietären Classical Text Editor begonnen, um daraus die Printedition zu erstellen, was eine nachträgliche Konvertierung nach XML-TEI P5 nötig macht. Armand Jamme präsentiert seine Erfahrungen zur Online-Edition von verstreut liegenden Rechnungsbüchern aus der Dauphiné, der Provence, Savoyen und dem Venaissin (13.–15. Jahrhundert), womit die Entwicklung von Regierungstätigkeit untersucht werden sollte. Zum Laufzeitende 2015 waren mehr als 22.000 Fotografien transkribiert, in XML-TEI ediert und lemmatisiert veröffentlicht. Zur Absicherung von Zugänglichkeit und Nachnutzbarkeit ist das Projekt mittlerweile technisch mit dem Projekt Castellanie verbunden, was zwar noch keine „super-base“, also Metadatenbank, darstelle, aber den Weg dahin markiere. Wie Magnani kritisiert Jamme die Finanzierungsformen der ANR, was dazu führen könne, dass Datenbanken schlimmstenfalls komplett verloren gingen. Hinsichtlich nichtschriftlicher Quellengattungen stellt Laurent Hublot die Datenbank SIGILLA zu Siegeln in französischen Archiven vor, die seit 2013 entwickelt wird. Zu dieser nationalen Datenbank für die Katalogisierung und Analyse historischer Siegel tragen viele institutionelle und individuelle Unterstützer:innen bei. Zur Retrokonversion von Altkatalogen kommen verschiedene fotografische Aufnahmen, wodurch Serialität, Materialität, der jeweilige Erhaltungszustand und die Anbringungsform sichtbar werden. Neu hinzukommen sollen technisch herausfordernde 3D-Repräsentationen, denn jeder Siegelabdruck sei einzigartig und ließe sich nicht durch mehrere Abdrücke zu einem Bild zusammenfügen. Auch bei der Beschreibung von Siegeln sei auf ein standardisiertes Vokabular zu achten, was u.a. durch die BnF-Normdaten erreicht werde. Torsten Hiltmann und Thomas Richert präsentieren weit fortgeschrittene Überlegungen zum Aufbau einer noch zu realisierenden heraldischen Datenbank. Die Autoren erläutern zuerst das fehlende allgemeine Forschungsinteresse an der Heraldik, präsentieren dann bisherige Unzulänglichkeiten in der Erfassung, Beschreibung und Auswertung, um abschließend ein eigenes Konzept für eine Datenbank mittels semantic-web-Technologien vorzustellen. Denn Daten sollten für Maschinen nicht nur lesbar, sondern auch verständlich werden, d. h. der Computer solle auch selbst neue Daten interpretieren können (S. 158).

An den Schlussbemerkungen fällt das Fremdeln mit der Digitalisierung auf. So fragt Isabelle Guyot-Bachy, ob das Aufkommen von Online-Editionen für Historiker:innen nur eine „Revision“ oder eine „Revolution“ darstelle (S. 173). Statt einer Antwort verweist sie erstens auf eine gewisse Verlustangst bei Archivar:innen bei der „sortie virtuelle“ (S. 177), also wenn historisches Material über die Digitalisierung einer weltweiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werde. Zweitens stelle sich die Frage nach der Arbeitsteilung zwischen Archivar:in, Editor:in und Historiker:in neu, wenn die alten Grenzen zwischen den Metiers aufgeweicht seien und effektives Arbeiten ohnehin nur noch im Verbund mit Informatikern möglich sei, was diesen eine entscheidende Rolle für ein Projekt zuweise.

Insgesamt vermittelt der Sammelband den Leser:innen den Eindruck eines breiten Spektrums an Erschließungsmöglichkeiten und -tiefen historischer Quellen und gleichzeitig einer vorsichtigen Annäherung von traditioneller und digitaler Geschichtswissenschaft in unterschiedlichen Geschwindigkeiten.

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